Oma Hilpe
Ich erinnere mich noch genau. Es war kurz nach dem Krieg. Die Menschen begannen langsam Not und Angst zu vergessen und jeder dachte nur
daran, wie er sich das Leben wieder schöner einrichten könnte.
In unserer Nachbarschaft wohnte eine alte Frau, allein.
Wie so viele ihrer Generation war sie durch den leidvollen Krieg Witwe geworden und bewohnte nun im Erdgeschoß eine winzig kleine Zweizimmerwohnung mit Küche, Bad und Balkon.
Weil sie schlecht laufen konnte, kam sie selten auf die Straße, grüßte dann aber jeden freundlich und hatte für jeden ein gutes Wort.
Kam sie vom Einkaufen zurück, sprangen die Kinder zu ihr, nahmen ihr die schwere Tasche ab und stellten sie vor die Tür, das gab es damals noch.
Und immer hatte sie für die Kinder eine Kleinigkeit mitgebracht. Mal waren es himmlisch süße Karamelbonbons, mal ein buntes Abziehbild,
wie sie damals von Kindern heiß begehrt waren.
Bei schönem Wetter aber saß sie meist auf dem Balkon und beobachtete aufmerksam das Treiben auf der Straße.
Und da gab es immer etwas zu sehen.
Kinder spielten Räuber und Gendarm, rannten um die Wette, kreischten laut oder warfen sich einen Ball zu.
Die Erwachsenen gingen zur Arbeit, kamen wieder von der Arbeit zurück, führten ihren Hund spazieren, gingen mit großen schweren Einkaufstaschen und redeten mit ihren Nachbarn über Politik oder
über das Wetter.
Das alles beobachtete Oma Hilpe, so wurde die alte Frau respektvoll von den Kindern auf der Straße genannt.
Denn Oma Hilpe war zwar alt und lahm, aber ihr Herz war jung geblieben und schlug noch kräftig, besonders für die Kinder.
Manchmal, wenn es draußen heftig regnete oder ein kalter Wind blies, klingelten die Kinder bei Oma Hilpe, saßen dann bei ihr auf dem Fußboden und hörten sich die Geschichten an, die ihnen die
alte Frau erzählte.
Da war die Rede von grausamen Ungeheuern, die jedes Jahr eine Jungfrau verschlangen, von Heinzelmännchen, die nachts die Arbeit der Hausfrauen taten und von listigen Kobolden, die einen einsamen
nächtlichen Wanderer in die Irre führten und von Schlössern, Königen und verzauberten Fröschen.
Oma Hilpe erzählte alle diese Geschichten auswendig, ohne Buch, und wenn sie mal eine Geschichte anders erzählte als beim letzten Mal, erhoben die Kinder lauten Protest.
Aber leider regnete es nicht sehr oft und dann spielten die Kinder lieber draußen auf der Straße und Oma Hilpe saß allein auf dem Balkon oder in ihrem Zimmer und träumte von früheren Zeiten, als
sie mit ihrem Mann noch zusammen und der Sommer noch ein richtiger Sommer und der Winter noch ein richtiger Winter gewesen war.
Nun war es wieder Winter, Weihnachten stand vor der Tür und Oma Hilpe wußte, daß sie auch in diesem Jahr wie alle Jahre davor den Heiligabend würde allein verbringen müssen.
Nicht einmal der Blick nach draußen würde sie trösten, denn dann waren die Straßen leer, weil alle sich um den Weihnachtsbaum versammelten und fröhlich das Christfest feierten.
Sie aber würde sich die alten Bilder von früher ansehen und dann bald ins Bett gehen, um Heizkosten zu sparen.
So kam der Weihnachtsabend heran. Es wurde früh dunkel und vom Fenster aus konnte sie sehen, wie Schneeflocken aus dem grau verhangenem Himmel sanft zur Erde taumelten und sich auf Autos,
Laternenpfähle und Hausdächer setzten, um sich zu einer weißen Watteschicht zu vereinen.
Oma Hilpe war gerade ein wenig in ihrem Sessel eingenickt, als es an ihrer Wohnungstür klingelte.
Aufgestört aus ihrem Schlaf hob sie den Kopf. War da nicht was? Hatte es nicht geklingelt?
Aber wer sollte bei ihr schon um diese Zeit klingeln? Hatte sie geträumt?
Da klingelte es wieder und sie vermeinte vor ihrer Tür Geräusche zu hören. Mühsam erhob sie sich aus dem Sessel und hinkte zweifelnd und verwundert zur Tür.
Vielleicht hatte einer ihrer Nachbarn etwas zum Fest vergessen, Eier oder Zucker.
Jeder wußte, daß sie immer etwas im Haus hatte, weil sie doch nur selten wegen ihrer Gebrechlichkeit rauskam. Es wäre nicht das erste Mal, aber jetzt, um diese Zeit?
Zögernd öffnete sie langsam die Tür und trat vor Schreck und Erstaunen gleich wieder einen Schritt zurück. Da standen Kinder und Erwachsene vor ihrer Tür, lachten sie an und wünschten ihr ein frohes Fest.
Aber das Unglaubliche war, daß direkt vor ihr ein kleiner Weihnachtsbaum stand, über und über mit goldenen und silbernen Kugeln geschmückt, weißen Wattebäuschchen und glitzerndem Lametta.
Und dann, noch ehe Oma Hilpe auch nur ein Wort sagen konnte, sangen die Kinder mit ihren hellen hohen Stimmen "Stille Nacht, Heilige Nacht".
Tränen überströmten das Gesicht von Oma Hilpe und sie mußte sich am Türrahmen festhalten, sonst wäre sie noch zu Boden
gesunken.
Behutsam nahm einer der Erwachsenen sie in den Arm, führte sie hinein in ihre gute Stube und setzte sie in ihren Sessel.
Noch immer konnte Oma Hilpe kein Wort sagen, es war ihr, als wäre das alles nicht wirklich, sondern als träumte sie.
Fröhlich und ungezwungen hüpften die Kinder in der guten Stube umher, bis sie von den Erwachsenen zur Ruhe ermahnt wurden.
Dann entzündete einer die Lichter am Weihnachtsbaum, ein anderer deckte mit einem weißen Tuch den Tisch, holte aus einem großen Korb Geschirr und Christstollen hervor und half dann Oma Hilpe, sich an den gedeckten Tisch zu setzen.
Jetzt endlich fand Oma Hilpe ihre Sprache wieder und stotterte hilflos: "Was ist denn nur los?"
"Weihnachten ist, Oma Hilpe, und wir wollten dir endlich einmal danken für alle Stunden, die du für unsere Kinder da gewesen
bist."
Oma Hilpe wollte noch etwas sagen, aber die Erwachsenen legten schweigend den Finger auf den Mund und nötigten sie, zuzugreifen.
Nach dem Essen trat eines der Kinder hervor und sagte ein Weihnachtsgedicht auf, das Oma Hilpe auch kannte.
Dann sangen sie alle gemeinsam "Oh du fröhliche, oh du selige...", umarmten Oma Hilpe und verabschiedeten sich, um sich für den Kirchgang vorzubereiten.
Als sie wieder allein war, entdeckte Oma Hilpe zwei kleine Päckchen auf den Tisch, die sie mit zittrigen Händen auspackte.
In dem einem Päckchen war eine große Tüte mit allerlei Süßigkeiten, in dem anderen waren ein paar wunderbar weiche Fellschuhe, genau das Richtige für ihre immer ein wenig kalten Füße.
Und jedes Jahr, solange Oma Hilpe lebte, kamen am frühen Nachmittag des Heiligen Abends eine Schar Kinder mit ihren Eltern und feierten mit Oma Hilpe das Christfest.
Und nie fehlte der Weihnachtsbaum und immer blieben ein oder mehrere Päckchen auf dem Tisch liegen.
Woher ich das alles weiß?
Ich war der Mann, der am ersten Abend die Lichter am Baum entzündete und habe später bei Oma Hilpe so manche Tasse Kaffee getrunken.
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